Die Trauminterpretation unter indigenen Völkern
Die Trauminterpretation hat eine lange Geschichte. Eine ehrenhafte wie auch eine unehrenhafte. Beinahe alle sogenannt primitiven Völker haben sich in irgendeiner Form damit beschäftigt. Die bekanntesten unter ihnen sind wohl die Senoi aus Südostasien und die Australischen Aborigenes, welche in engem Kontakt mit etwas, das sie Traumzeit nennen, leben. Weitere Völker sind die Achuar, ein Ecuadorianischer Amazonas Stamm, und die Lacandon, welche von den Maya in Mexico abstammen.
Nach Kilton Stewart (Stewart, 1969, pp. 301 - 304), instruieren die Senoi ihre Kinder soweit, dass sie jegliches Albtraumlebewesen konfrontieren und besiegen sollen. Sie sollen sich so lange an ihm festhalten, bis sie von ihm ein Geschenk bekommen, welches ein Tanz, ein Lied, ein Gedicht oder auch eine Geschichte sein kann. Was auch immer das Kind von seinem Traummonster bekommt, wird mit den anderen Stammesmitgliedern geteilt, und manchmal kann es vorkommen dass das Geschenk dann auch ins Stammesleben integriert wird (Kaplan-Williams, 1980, pp. 161 - 170).
Die Aborigines von Australien leben in einem engen Kontakt mit den Orten, welche sie bewohnen und durch welche sie sich bewegen. Diese Orte werden dann in die Stammesmythologie aufgenommen. Lieder und Märchen sind für sie wie eine Art Landkarte, nach denen sie sich orientieren können. Wenn sie das Lied zu einem Ort kennen, dann kennen sie sich an diesem Ort aus. Sie leben in einer zyklischen Zeit, gehen mit den Jahreszeiten, die sich endlos wiederholen, und haben so kein lineares Zeitkonzept, wie wir es kennen, in welchem sich die Ereignisse eines an das andere in einer sich nicht wiederholenden, endlosen Abfolge reihen. Mit was sie in den Träumen konfrontiert werden, ist für sie eben so Teil der Realität wie alles andere, mit dem sie in ihrem Leben zu tun haben (Chatwin, 1987, Morgan, 1991).
Die gleiche Einstellung zur Traumrealität gibt es auch bei den Achuar Indianern, die im Amazonas in Ecuador leben. Die Anthropologin Marilyn Schulz hat erkannt, dass das Traummitteilen ein zentraler Bestandteil ihrer Kultur ist. So schrieb sie: "Für die Achuar ist wie für andere indigene Völker der Wachzustand eine Illusion. Das wahre Wesen des Seins wird in Träumen und halluzinogene Visionen wahrgenommen und behandelt. So haben diese Waldbewohner Zugang zu Kräften, die nicht im alltäglichen 'illusorischen' Bewusstsein offengelegt werden. Sie glauben, dass eine Art Seelenkörper ihren physischen Körper verlässt, um in einer Parallelwelt zu reisen. Ihre Traumreise bringt präkognitive Erkenntnisse in die Zukunft - damit schlagen sie Strategien für die Alltagsaktivitäten vor" (Schlitz, 1998).
Während seiner Arbeit bei den Lacandon Indianern im Süden Mexikos und in Guatemala hat der Anthropologe R.D. Bruce eine eher modern anmutende Methode der Trauminterpretation vorgefunden. Von einem dieser Nachfahren der Mayas bekam R.D. Bruce eine sehr (über-) vereinfachte Version ihres Konzepts der Trauminterpretation überliefert. "Ein Traum ist irgendwie wie eine Lüge. Er teilt einem die Zukunft mit, aber manchmal werden die Proportionen und Werte im Traum verkehrt gezeigt: So bedeutet viel Mais seine baldige Knappheit. Und was einem im Traum gross vorkommt, wird klein sein. Auch können in Träumen Personen die Gestalt von Tieren annehmen und Tiere die Gestalt von Personen." (Bruce, 1975, p. 19). Ich bin mir sicher, dass jene, welche mit Jung`s Traumkompensationstheorie vertraut sind, diese hier wiedererkennen werden.
Nächster Abschnitt Abschnittsliste Kapitelliste